17 Jahre trocken
OSTHEIM IN DER RHÖN
17 Jahre trocken und trotzdem ist jeder Tag eine Herausforderung: Warum ein Rhöner anderen Alkoholabhängigen hilft
Bis heute weiß Reinhold Stäblein nicht genau, warum er zum Alkoholiker wurde. Die Erkenntnis traf ihn hart. Heute betreut er 14 Selbsthilfegruppen für Suchtkranke.

Foto: Christoph Weiss | Reinhold Stäblein ist trockener Alkoholiker. Seit knapp 17 Jahren hat der 64-Jährige keinen Alkohol mehr getrunken. Heute hilft er anderen Betroffenen.
Von Kai Kunzmann
16.02.2025 I aktualisiert: 17.02.2025 10:22 Uhr
Donnerstagabend Reinhold Stäblein verlässt sein Haus in Fladungen. Sein Ziel:
Das knapp zehn Kilometer entfernte Pfarrhaus in Ostheim. Für ein paar Stunden treffen sich dort Spielsüchtige, Drogenabhängige und Alkoholkranke. „Was in diesem Raum besprochen wird, bleibt auch dort“, sagt Stäblein.
Beinahe jede Woche besucht er die Treffen der Selbsthilfegruppe, obwohl der 64- jährige Rentner seit 17 Jahren trockener Alkoholiker ist. „Mir geht es gut, auch wenn ich unheilbar krank bin. „Unheilbar krank, weil die Krankheit ganz einfach nicht heilbar ist“, sagt Stäblein. Ein Rückfall sei immer möglich.
Heute spricht er offen über seine Alkoholabhängigkeit. Doch das ist nicht immer so. Er braucht Jahre, um zu erkennen, dass er ein Problem hat. Alkohol trinkt Stäblein zum ersten Mal früh in seiner Jugend. Wann genau, weiß er selbst nicht mehr. „Wenn man zur Gesellschaft gehören möchte, gerade in jungen Jahren, da gehört Alkohol einfach dazu“, sagt er.
Vom Feierabendbier zum geheimen Alkoholdepot
Seinen Weg in die Abhängigkeit beschreibt er als schleichenden Prozess. Stäblein lernt Kirchenmaler, später arbeitet er im Rettungsdienst. Immer häufiger trinkt er nach der Arbeit. „Der Alkohol hat eine Funktion übernommen. Ich habe getrunken, um runterzukommen und zu vergessen“, sagt er.
„Mir hat es den Boden unter den Füssen weggezogen.”
Reinhold Stäblein über den Moment, in dem er realisierte, dass er ein Problem hat.
Die Sucht bestimmt zunehmend seinen Alltag. Er zieht sich aus dem Familienleben zurück, unternimmt kaum noch etwas mit seiner Frau und seinen drei Kindern.
Irgendwann versteckt er Alkohol sogar bei sich zu Hause. Er stellt sich Fragen wie: Wie viele Feiertage kommen? Habe ich dafür genügend Vorrat? Wie entsorge ich die leeren Flaschen wieder? „Ich nenne das mittlerweile Kriminalität. Man macht sich selbst Stress und klaut sich wertvolle Zeit“, sagt er.

Foto: Christoph Weiss I Aus Liedern schöpft Reinhold Stäblein Kraft und Motivation. Der Song „Gut, wieder hier zu sein“ von Hannes Wader, Konstantin Wecker und Reinhard Mey läuft regelmäßig bei den Treffen seiner Selbsthilfegruppe.
Doch Stäblein glaubt an dem Punkt noch, alles im Griff zu haben. Er fehlt keinen einzigen Tag bei der Arbeit und trinkt nach eigener Aussage nie im Dienst. Rückblickend hatte ich riesiges Glück, dass ich keinen Unfall hatte, nicht von der Polizei angehalten wurde und auch, dass beruflich nichts passiert ist“, sagt der 64- Jährige.
Erst als seine Frau und ein Arbeitskollege ihn auf seinen Alkoholkonsum ansprechen, setzt die Erkenntnis ein. „Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen“, erzählt Stäblein mit gläsernen Augen. Zu diesem Zeitpunkt ist er 45 Jahre alt.
Alkoholiker-Selbsthilfegruppe in Ostheim wird zu neuem „Stammtisch“
Sein Hausarzt vermittelt ihn an die Caritas, ein Angebot auf Therapie lehnt er aber zunächst ab. „Ich wollte erst mal nur in eine Selbsthilfegruppe gehen“, sagt Stäblein. Anfangs geht er vor allem aus Neugierde zur Kreuzbund-Selbsthilfegruppe in Ostheim. „Ich wollte wissen, wie es Jupp, Sepp, Frieda oder Karl geht. Ob jemand Neues kommt“, erzählt der 64-Jährige.
Die Selbsthilfegruppe wird zu seinem neuen Stammtisch. Bis er bemerkt, dass die regelmäßigen Treffen helfen, dauert es aber: „Anfangs hat sich nichts getan. Aber nach so einem Vierteljahr, vielleicht auch mehr, habe ich festgestellt, irgendwie tut sich da was.“
Drei Jahre später, im Alter von 48 Jahren, macht Reinhold Stäblein schließlich eine Therapie. Sie motiviert ihn, weiter an sich zu arbeiten: „Ich habe gemerkt, nach dem fünften Gang kommt auch noch ein sechster — da rollt noch etwas. Durch die Therapie bin ich allgemein sicherer geworden“, erzählt er.
Nach der stationären Therapie muss sich Stäblein neu an den Alltag gewöhnen. „Während der Therapie ist man in einer Käseglocke, danach ist man quasi Freiwild.“ Das Vertrauen seiner Familie muss er zurückgewinnen. Er schlägt seiner Frau vor, mit in die Gruppensitzungen zu kommen. Sie zögert zunächst, kommt aber schließlich mit, erzählt er. Von da an besuchen sie gemeinsam die Gruppe.
„Während der Therapie ist man in einer Käseglocke, danach ist man quasi Freiwild.“
Reinhold Stäblein über die Zeit nach der Therapie
Öffentlich möchte seine Frau nicht darüber sprechen. Dafür sei der geschlossene Rahmen der Selbsthilfegruppen besser geeignet. Stäblein weiß den Einsatz seiner Frau zu schätzen: „Nach der Therapie ist mir erst bewusst geworden, was meine Frau in der Zeit, in der ich getrunken habe, alles geleistet hat. Trotzdem hat sie immer zu mir gehalten. Dafür bin ich ihr verdammt dankbar.“
Warum Stäblein nach 17 Jahren immer noch in die Selbsthilfegruppekommt
Reinhold Stäblein weiß seit 17Jahren, was es ausmacht, als trockener Alkoholiker zu leben. Diese Erfahrung soll auch anderen Suchtkranken helfen. Seit über zehn Jahren betreut der 64-Jährige ehrenamtlich neben der Selbsthilfegruppe in Ostheim noch 3 weitere Gruppen und ist bei allen anfallenden Problemen und Fragen Ansprechpartner. Warum? Man muss dranbleiben. Ich glaube, ich habe das Helfersyndrom. Ich habe schon immer geholfen. Wenn einer Hilfe braucht, ich bin da.“
Von Stäbleins Engagement profitiert auch der Caritasverband des Landkreises Rhön- Grabfeld. „Wir vermitteln Betroffene an die Selbsthilfegruppen. Und umgekehrt meldet sich Herr Stäblein bei uns, wenn jemand Hilfe braucht“, sagt Susanne Till, Leiterin der psychosozialen Beratungsstelle des Caritasverbandes.
Anderen Suchtkranken, möchte Stäblein vor allem eines mitgeben: „Es ist nie zu spät, sich einzugestehen, dass man ein Problem hat“. Er fühle sich manchmal immer noch als Außenseiter, wenn er kein Alkohol trinkt. Achtsamkeit und Selbstkontrolle seien in diesen Momenten entscheidend, sagt er. Denn eines ist sicher: Stäblein will nie wieder in seine alten Muster verfallen.
Nachfolgend ein Schreiben das Reinhold erhalten hat.
Artikel in der Main-Post 17.02.2025 13:32
An reinhold.staeblein@kreuzbund-wuerzburg.de
Sehr geehrter Herr Stäblein,
mit Bewunderung habe ich den heutigen Artikel in der Main-Post über Sie gelesen. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Durchhaltevermögen!
Ihre Lebensgeschichte liest sich als wäre es die meines Mannes und mir. Nur leider sind wir noch nicht so weit wie Sie und Ihre Frau. ich bin mit meinem Mann nun seit 18 Jahren verheiratet und seit Ź7 Jahren zusammen. Wir haben ein Haus gebaut und eine Familie gegründet. Unsere wundervollen Kinder sind 17 und 13 Jahre alt. Beruflich lief alles top. Eigentlich alles wie im Bilderbuch.
Vor etwa einem dreiviertel Jahr musste ich meinen Mann mit dem Rettungsdienst in die Uniklinik nach Würzburg einweisen lassen. Er ist am Spätnachmittag auf dem Weg zur Toilette zusammengebrochen. Ich hatte keine Ahnung, was der Auslöser war. Die Symptome hätten auch auf einen Schlaganfall hindeuten können. Er versicherte der Notärztin, er habe nichts getrunken. In der Klinik zeigte eine Messung dann 2,4 Promille. Wir haben zuhause dann leere Flaschen in Verstecken gefunden. Mir wurde allmählich klar, dass sein Verhalten krankhaft war. Er war dann, ich meine es waren 5 Tage, in der Klinik. Dann erzählte er den Ärzten, dass er sein Leben im Griff hat und dies ein Ausrutscher gewesen sei. Sie haben ihn entlassen. Eine Therapie hat er nicht gemacht. Und er ging wieder brav zur Arbeit als wenn nichts gewesen wäre.
Das ging eine Zeit lang gut Dann ist er wieder zusammengebrochen. Diesmal habe ich keine Rettung gerufen. Ich wusste, dass er „einfach nur“ besoffen war. Ich ließ ihm seinen Rausch ausschlafen und schickte ihn nach dem Wochenende zur Hausärztin. Ich appellierte an ihn, dass er sich dringend Hilfe holen solle. Aber er wollte die Ernsthaftigkeit seiner Krankheit nicht eingestehen. Auch der Ärztin gegenüber versicherte er glaubhaft, dass das alles gar nicht so schlimm sei und dass er alles im Griff habe. Sie ahnen es sicherlich. Er hatte sich nicht im Griff.
Anfang dieses Jahres war wieder so ein Tag. Er kam nicht aus dem Bett, wollte nicht essen, wollte nichts trinken. Er wolle nur in Ruhe gelassen werden. Er konnte kaum einen Satz gerade aussprechen und von laufen konnte man nicht sprechen. Ich musste Hilfe holen. Mit großer Überzeugungskunst konnte ich ihn dazu bringen, dass er mit mir nach Lohr ins Bezirkskrankenhaus fährt und sich selbst dort einweist. Er hat mir wieder versichert, dass er nichts getrunken hat Ihm geht es einfach nur schlecht. Das seien seine Depressionen.
Daraufhin wurde er auch auf eine entsprechende Station zugeteilt. Dort war er dann etwa 2 1/2 Wochen. Dann wurde er entlassen und ging wieder brav zur Arbeit. Er wollte die Krankheit nicht als solche eingestehen und war somit auch für Veränderungen nicht bereit.
Für uns als Familie war dieser Zustand, der sich nun mehrfach wiederholt hat, nicht mehr auszuhalten. Auch zum Schutz der Kinder bat ich Ihn dass er sich eine Wohnung suchen soll und erst mal sein Leben in den Griff bekommen soll. Ich glaube, ihm wurde dann doch bewusst, was er gerade verliert. Außer uns, also seiner Familie, und seiner Arbeit hat er nichts. Mit seinen Eltern liegt er im Streit und ein soziales Umfeld hat er sich nicht aufgebaut. Einen Freundeskreis hat er nicht. Die Kinder ignorieren ihn und auch ich weiß nicht so recht, was ich mit ihm noch reden soll. Die Abende und Wochenenden verbrachten wir getrennt. Ich habe ihn auch vom nächsten Familienurlaub ausgeschlossen. Wir halten es mit ihm einfach nicht mehr aus. Seine pure Anwesenheit, seine Ausstrahlung ist einfach zum Kotzen. Das hat er scheinbar dann doch gespürt. Am letzten Wochenende hat er sich dann wieder die Flasche gegeben. Diesmal war es wohl eine Flasche Wodka, die wir dann später gefunden haben. Allerdings hat er diese wieder mit Wasser gefüllt, damit es nicht auffällt. Am Samstag hat sich dann sein Zustand wiederholt, den ich schon von Anfang Januar her kannte. Ich wusste, ich kann Ihn so nicht zuhause lassen. Er hat natürlich wieder geleugnet, dass er getrunken hat.
Ich hatte keine Wahl. Um ihm zu helfen, aber auch zum Selbstschutz für die Kinder und mich, habe ich ihn erneut mit großer Überzeugungskraft dazu gebracht, dass er nun seit letztem Samstag wieder im BMH in Lohr ist. Er hatte 2,1 Promille. Ich habe ihn gestern nochmal besucht, um ihm ein paar Sachen zu bringen. Wenn er nüchtern ist dann kann man ganz normal mit ihm reden. So als wäre nichts gewesen. Dann ist er auch einsichtig. Er findet es dort schrecklich. Er sieht das Leid der anderen, aber nicht sein eigenes. Ich hoffe, dass er nun endlich kapiert. wie krank er ist und die Hilfe, die er dort bekommt, annimmt.
Ich weiß auch nicht, wie unsere Beziehung weitergehen soll. Er hat die Kinder und mich durch seine Uneinsichtigkeit so oft verletzt. Das tut echt richtig weh. Ich weiß nicht, ob ich ihm irgendwann mal wieder mein Vertrauen schenken kann. Ich danke Ihnen, dass Sie meine Zeilen gelesen haben. Ich musste mir das einfach mal von der Seele schreiben.
Liebe Grüße
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